Sonntag, 28. September 2008

Sozialstunden

Ich erwache und schaue in einen freundlichen blauen Himmel, neben mir liegt meine langzeit Freundin und sieht verdammt gut aus. Während sie aufsteht und mir ein Frühstück mit heißem Kaffee und gekochten Eiern ans Bett bringt, schlummere ich noch ein wenig. Nach dem Frühstück ziehe ich in einen enorm viel versprächenden Tag.
Das wäre doch mal was.
Natürlich sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass ich mal wieder mit einem Kater, so fett wie Garfield, aufwache und keine Ahnung habe wo ich eigentlich bin. Ich hielt es Gestern wohl für nötig mich komplett zu besaufen. Keine Ahnung wieso, aber es gab sicher einen triftigen Grund. Es gibt nur dummer weise keinen schlimmeren Anfang für einen Tag, als noch nicht nüchtern an einem Ort aufzuwachen, welchen man nicht kennt. Gibt nur Probleme.
Ich zwinge mich dazu nicht nach zuschauen wer neben mir liegt, ziehe mich an und verlasse leise das Haus. Da mir das Grundstück ebenfalls vollkommen unbekannt vorkommt, entschließe ich mich die Umgebung zu erkunden.
Kaum 50 Meter weiter finde ich ein Ortsausgangsschild, und mich beschleicht das Gefühl, dass der Weg zum Ortsausgang in die andere Richtung nicht wirklich länger gewesen wäre. Aber wenigstens weiß ich jetzt wo ich bin, und wo ich hin muss. Dies liegt natürlich nicht an meinen enormen Geographiekenntnissen, ich habe von dem Kaff noch nie was gehört, sondern daran, dass auf dem Ortsausgangsschild der Name meiner Heimatstadt als nächste Ortschaft prangt. Mit einer 7km Angabe dazu. Super. Würde nach Taxi klingen, aber ich bin pleite und habe auch kein Handy dabei. So klingt es eher nach Frühsport.

Vielleicht sollte ich ein lustiges Wanderlied pfeifen um die Stimmung zu heben, nur ist das mit ausgetrocknetem Mund, und dem Geschmack von 5 Tage totem Eichhörnchen auf der Zunge nicht gerade nahe liegend. Außerdem kann ich mich nicht mehr an den gesamten Text von „Das Wandern ist des Studenten Frust“ erinnern.

Mir tun die Füße weh.

Es ist kalt.

Es beginnt zu hageln.

Es hört auf zu hageln.

Ich hab keine Lust mehr.

Dort liegt ein Fahrrad im Graben.

Moment, ein Fahrrad? Ich sehe es mir genauer an. Das Fahrrad ist halb im Gebüsch verborgen und an ihm sind drei große Taschen angebracht. Es liegen Schnüre dabei die es möglich machen würden weitere Gegenstände zu befestigen. Außerdem schnarcht es. Ich habe zwar recht wenig Erfahrung mit Fahrrädern, aber ich glaube, eigentlich bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass sie nicht schnarchen. Oder zumindest höchst selten. Während ich noch den schnarchenden Drahtesel anstarre, hört er damit auf. Beginnt dafür aber zu husten. Was natürlich noch viel seltsamer ist. Ich überlege ob ich schon mal was von dämonischen Drahteseln gehört habe. Ein bbfh sozusagen. Aber mir ist nichts dergleichen bekannt. Wo ist eigentlich Mulder wenn man ihn mal braucht. Ich gehe vorsichtig einen Schritt zurück, da erkenne ich weiter hinten im Gebüsch zwei Füße. Das dämonische Rad wird doch nicht einen Menschen angefallen haben?!. Nein er lebt noch, jedenfalls bewegen sich die Füße.
„Alles in Ordnung?“ frage ich.
„Hrmpf.“ ertönt eine Antwort die in ein beträchtliches Husten übergeht. Auf jeden Fall ist sein Husten in Ordnung, was im Gegenzug für die Gesundheit nicht gilt... Naja.. egal..
„Gehts ihnen gut?“
„Verschwinde.“ Es scheint ihm wohl doch ganz gut zu gehen. Aus dem Gebüsch wühlt sich eine abgerissene Gestalt. Es ist ein alter Mann in einem abgerissenen bunten Anorak und einer mit Schlamm verschmierten Hose. Er schaut mich mit braunen Augen an und sagt einen wirklich klugen, wohl überlegten und perfekt formulierten Satz, der eine Spur Staatstreue vermuten lässt und doch in Verbindung mit zu unserem wechselnden globalisierten Weltbild in gewisser Weise anarchistisch anmutet.
„Hast ma ne Kippe?“

Ich klopfe meine Taschen ab und finde, natürlich, eine Schachtel Nil in der noch zwei Kippen drin sind. War ja klar, kein Handy, kein Geld, aber Zigaretten dabei. Dafür aber auch kein Feuerzeug. Ich biete ihm trotzdem eine an. Er nimmt beide.
„Eine will ich.“ melde ich meinen Anspruch an.
„Na wenns denn..“ Er bricht erneut in einen Hustenanfall ab.
„Sie sollten sowieso nicht soviel rauchen, bei dem Husten.“
„Quatsch.. *röchel* das ist die elende Dreckskälte.“
„Apropos Dreckskälte, hast du Feuer.“
„Hm? Ja, ja..“ Er durchwühlt seine Taschen und findet eine Schachtel mit einem Streichholz. Wenigstens lässt sich dieses entzünden, und trägt ein wenig Wärme in unsere kalte Welt, und so auch ein wenig Qualm in unsere Lungen.

Während wir rauchen lasse ich mir von ihm das Offensichtliche bestätigen. Er ist ein Obdachloser und ihm ist „scheißkalt“ weil er seit Wochen draußen „pennt“. Außerdem will er nicht in die einschlägigen Häuser weil ihm das „Gesochs auf den Sack geht“.

Wir machen uns gemeinsam auf den Weg, er schiebt sein Fahrrad, wenn er sich überhaupt noch erinnert aus welcher Richtung er gekommen ist, dann ist es ihm jetzt egal. Unterwegs erzählt er mir was er so alles Tolles gemacht hat. Er hat bei tm3 Moderiert bevor das zu 9live wurde und er wegen seiner politischen Einstellung gehen musste, dann hat er auf Koch umgelernt und kocht nun im Sommer auf Usedom und im Winter in Spanien, er verdient dabei auch super, und läuft nur aus Erinnerung an früher in der Kälte durch die Gegend. Er ist jetzt auch nur deshalb nicht in Spanien, weil die Amerikaner ihn unter Terrorverdacht haben und er nicht ausreisen darf. Außerdem ist ihm sein Pferd weggelaufen und mit irgendwelchen Trappern mit, seitdem sucht er es. Ein Haufen ausgemachter Schwachsinn. Und weil er Angst hat, das Außerirdische ihn entführen schläft er draußen, weil die Aliens nur die Menschen entführen, die in Wohnhäusern in IKEA-Betten schlafen. Die stecken nämlich alle unter einer Decke.

„Warum pennst du nicht in der Uni.“ schlage ich ihm vor.
„In der Uni?“
„Klar am Wochenende ist da niemand, es ist warm, es gibt keine Betten, und reinkommt man auch irgendwie.“
„Und was sag ich wenn mich doch jemand findet?“
„Dass du ein Professor bist, der übers Wochenende noch unbedingt was erledigen muss.“
„Und das klappt?“
„Kann es schlimmer werden?“
„...Stimmt.“
So begleitet er mich kurzerhand in meine Heimatstadt wo ich ihn in die Gebäude der Wirtschaftsfakultät begleite. Diese sind auch am Sonntag offen, da die Bibliothek offen hat. Dort sitzen auch fünf(!) Studenten und schlafen. Ok, einer scheint zu lesen. Wir winken freundlich und suchen ein offenes Kaffeezimmer wo er sich einquartiert.
„Und wenn sie wissen wollen wo mein Büro ist.“
„Niemand weiß hier wo irgend ein Büro ist, das ist die Uni.“
„Aber man kennt doch die Professoren.“ langsam geht er mir auf den Keks.
„Nein, auch die kennt niemand, und gesehen haben sie auch nur die Hälfte. Das ist die Uni.“
„Aber wenn nun doch...“
„Das ist die Uni.“
„Aber..“
„Dann denk dir irgendwas aus Mann!.. Ich schau Montag früh mal vorbei.“
Ich gehe. Wird Zeit für eine Mütze Schlaf, oder ne Runde UT3, mal schauen.

Am Montag komme ich circa eine Stunde bevor die Mensa aufmacht an die Uni. In der Wirtschaft ist erwartungsgemäß erst wenig los. Nur leider ist dies in dem Kaffeezimmer in dem ich den Obdachlosen abgeladen habe nicht der Fall. Dort sitzen zwei Männer und der Penner. (Hihi, zwei Männer und der Penner) Er sieht etwas hilflos aus.
„Ah, Herr Acker.“ Sich spontan einen Namen auszudenken zu einem Penner den man nicht danach gefragt hat ist aber auch schwer. „Schön, dass ich sie gefunden habe, könnte ich sie kurz sprechen?“
Er kommt zum Glück sofort mit.
„Was haben sie denen erzählt?“ raune ich ihm zu.
„Dass ich ein Professor bin.“
„Und hat es geklappt?“
„Naja, so fast.“
„Wie so fast?“
„Sie glauben ich hätte mich hier auf eine Stelle beworben.“
„Oh.“
„Und sie freuen sich schon auf meinen Vortrag, heute Nachmittag.“
„Toll.“
„Nein, hol mich hier raus.“
„Nein.“
„Aber ich kann doch nicht..“
„Professor werden, ich denke schon.“
„Aber.“
„Pass mal auf, ich sorge dafür, dass Unterlagen in den richtigen Büros landen, so dass es aussieht als wärst du tatsächlich eingeladen.
„Aber was soll ich denen erzählen? Ich soll einen Vortrag halten!“
„Sag ihnen du würdest eine Untersuchung über die Bedeutung der Obdachlosen für die deutsche Wirtschaft machen.“
„Wow... das ist gut.“
„Klar doch, und ansonsten erzähl ihnen irgendwelchen unausgegorenen Mist das kannst du verdammt gut.“
„Heh..“
„Klar die Aliens haben dein Pferd entführt..“
„Das waren die Trapper.“
„Natürlich, mach einfach. Wir sehen uns in deinem Vortrag.“

Ich lasse ihn zurück. Und verschwinde in den nächsten PC-Pool. Dieser ist natürlich komplett überfüllt. Ich gehe zu jemanden der sowieso nur Minessweeper spielt und bitte ihn doch den Platz zu räumen. „Verpiss dich“ bekomme ich als Antwort. Ich gehe und öffne den Nächsten Kabelschacht, aus diesem reiße ich wahllos zwei Kabel, dies bewirkt, dass der Flur dunkel wird. Egal der hat eh keine Fenster. Ich gehe zurück in den PC-Pool.
„Hier halt mal“ Sage ich zu dem Typen von eben und drücke ihm die beiden Kabelenden in die Hand.
„Was, wieso?“
„Ist wichtig.“
„Aber.“
„Wegen der Regierung.“ Ich gehe in Richtung Steckdose.
„Der Regierung.“
„Ja die will nämlich die Ikea-Verschwörung vertuschen.“
„Was für eine...“ SSSSSTTT Die Verbindung Mensch <-> Steckdose sorgt immer wieder für Spannungen. Die Sicherung springt raus und es wird dunkel. Ich schiebe den bewusstlosen Körper unter den Tisch und warte, dass der Strom wieder an geht. Dauert knapp zwei Minuten.
Nach dem erneuten Start des Computers habe ich nun endlich einen Platz.
„Sag mal die Ikea-Verschwörung?“ spricht mich ein junger, zu junger, Student an, der das Gespräch wohl vorhin gehört haben muss.
„Ja geht darum, dass die Billiregale aus echten Menschenknochen gemacht werden.“
„Was?“
„Klar sonst hießen die wohl kaum Billi oder? Hier halt mal“ SSSSSTTT Drei Minuten später kann ich endlich die nötigen Dokumente zusammen pinseln damit Herr Acker auch eine Bewerbung eingereicht hat. Lebenslauf und Zeugnisse sind echt unproblematisch. Die Papiere müssen jetzt nur noch in das Büro vom Leitenden der Berufungskommission. Damit mein Bewerber auch wirklich existiert.
Welches Büro das ist lässt sich im Internet recht schnell raus finden, wo es ist allerdings nicht. So brauche ich eine geschlagene Stunde bis ich das Büro von Herrn Tampelmann und, noch wichtiger, das seiner Sekretärin gefunden habe. Ich klopfe und überlege mir wie eich eine Frau im besten Mittelalter wohl ablenken kann. Vor mir sitzt ein Sekretär. Das überrascht mich nun doch. So etwas sieht man selten.

„Was kann ich für sie tun?“ freundlich ist er auch noch. Das geht nicht, ich mache auf dem Hacken kehrt und verschwinde in die Cafeteria. Bei einem Kaffee überlege ich was ich nun machen soll, da fällt mein Blick in den Ausschnitt der, ausnahmsweise mal jungen Verkäuferin. Dies bringt mich spontan auf eine Idee. Ich trinke gemütlich meinen Kaffee. Und gehe dann zurück zum Sekretär. Dort angekommen schnappe ich mir mein Handy und rufe in der Cafeteria an.
„Hallo?“
„Können sie mir fünf Kafffee ins Büro bringen?“
„Das machen wir eigentlich nicht..“
„Ich bitte sie, unsere Kaffemaschine ist gerade ausgefallen und ich habe gleich ein Meeting mit Vertretern aus der Wirtschaft.“
„Aber.“
„Es geht um Drittmittel.“
„Ok..“
„Ich bitte sie.“
„Ich mach es ja!“
„Wirklich, oh vielen Dank. Danke, Danke, Danke.“
Ich gebe ihr schnell noch die Zimmernummer des Sekretariats und eine Wegbeschreibung.

Dann klopfe ich an und trete ein.
Ich bitte den Sekretär nachzusehen ob mein Schein schon fertig ist und schaue mich derweil schon mal um. Leider kann ich keine Bewerbungsmappen erkennen. Wie gerufen kommt die junge Dame aus der Cafeteria in dem Moment zu Tür herein mit einem Tablett voller Kaffeetassen. Bevor sich noch eine Diskussion entfalten kann, was sie denn hier will remple ich sie an und verteile den Kaffee gleichmäßig über ihr und dem Schreibtisch. Wie erwartet bricht Hektik aus. Während beide versuchen diverse Papiere und Kleidungsstücke zu retten fällt es keinem auf, dass ich mich in das Büro des Professors verdrücke.
Dort brauche ich etwas um den Stapel mit den Bewerbungsmappen der Kandidaten zu finden. Ich schiebe die von Herrn Acker dazwischen. Als ich vorsichtig das Büro verlasse, stelle ich fest, dass der Sekretär der Dame aus der Cafeteria den Kaffee von der Bluse tupft und ihr dabei tief in die Augen schaut. Herrlich. Ich geh dann lieber, hier würde ich doch nur stören.

Später treffe ich den Penner vor einem kleinen Hörsaal. Er ist aufgeregt.
„Ich bin gleich dran.“ meint er.
„Wie war es bis jetzt?“
„Haben mir alles geglaubt.“
„Sag ich ja. Und weißt du schon wie dein Vortrag aussehen soll?“
„Nein.“
„Naja, das wird schon.“
„Herr Acker? Sie sind dran.“ unterbricht uns ein älterer Herr.
Ich setze mich dazu, die Show kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen.

Der Obdachlose, ist ein Mensch wie du, äh sie und ich. Äh, ja. Also und dieser äh Mensch ist auch ein Kunde in der Wirtschaft und so. Oder eben äh, kein Kunde, weil er hat ja nichts. Genau, er hat nichts. Ich hab in den letzten Monaten dieses Problem aus der Sicht des Obdachlosen betrachtet, äh, wie man sieht. Genau, und Äh, also. Der Obdachlose an sich ist eine Subkultur in unserer globalisierten Umgebung die unsere Gesellschaft passiv unterwandert, wird diesem nicht repressiv entgegen gewirkt könnte dies die wirtschaftliche Stabilität der Aktienkurse nachhaltig schädigen.

So ein Bullshit! Genial, der Mensch. Mann könnte meinen er macht so was ständig. Alle schauen ihn aufmerksam an und hängen an seinen Lippen wie Herpes.

Drei Monate später lädt Herr Acker mich zu einem Sekt in der Cafeteria ein. Er trägt einen sauberen Anzug zu seinen abgewetzten Stiefeln.
„Auf ihre Professorenstelle?“
„Auf meine Professorenstelle!“
„PROST!“